Noch mehr Streit

Streiten am Regentag


Abwechselnd dachte ich, dass wir blöd waren oder dass unsere Situation blöd war. Am häufigsten dachte ich, dass unsere Situation blöd war, weil wir blöd waren. Aber vor allem waren wir zusammen so blöd. Anstatt dass diese acht Köpfe zusammen klüger wurden, wurden sie immer dümmer. Der Stolz macht dumm. Das Bestimmenwollen macht dumm. Das Streiten. Der Regen.
Eine alleine wäre in die Stadt gegangen und hätte gesagt: Hier bin ich.
Bea sicherlich nicht, aber die anderen schon.
Ich hatte meinen Kopf auf die Knie abgelegt. So konnte ich nach unten auf den Boden sehen, auf die blaue Plane, die wir ausgelegt hatten. Obwohl wir sie jeden Tag ausschüttelten und vorne unsere Schuhe ausklopften, war sie schon wieder voll Sand. Dort unten auf der blauen Plane schaltete sich eine Leinwand ein und ich sah mir unsere Fluchtnacht noch einmal an. Es war ein wackeliger Ausschnitt der Ereignisse. Von einer Handkamera oder dem Kamerakind aufgenommen. Da stand Inken. Sie schrie. Haut ab. Das kam mir irgendwie so krass vor, weil ja überall diese Tierleichen rum schwammen und ich bei Haut ab erst einmal dachte, dass die Haut der Tiere ab wäre oder dass sie die Haut abziehen wollte.
Hatten diese Kaninchen irgendwas mit den Kaninchensatanisten zu tun. Wie Bea sie genannt hatte. Die Blutschmierereien in der Baracke tauchten auf meiner Leinwand auf dem Tunnelboden auf. Ich konnte sie mir auf der blauen Plane voll Sand ansehen. Brüder der Sünde. Orden der gemeinen Niedertracht, hatte da gestanden. Und dieses Kaninchen.
Die Kaninchenschmiererei war neben der Tür gewesen, nur Bea und ich hatten sie gesehen. Das war mir gleich aufgefallen. Bea war auch die einzige, die an dem Morgen allein im Barackendorf unterwegs war. Halt, sagte ich zu mir, Yvette hatte die Schmiererei gefunden. Wer sagt denn, dass sie sofort nach uns gerufen hatte? Sie hatte alle Zeit, dort Blut zu verteilen. Und den Rechtschreibfehler zu korrigieren. Ich traute ihr das nicht zu. Vielleicht war das der Fehler. Ich ließ mich zu sehr von meinen Gefühlen leiten. Dass Bea es war, behagte mir nicht. Warum hätte sie das machen sollen? Die Taschen verstecken? Warum? Und Yvette traute ich es nicht zu. Es war selbst für sie zu blöd. Ich meine, sie war blöd, unbenommen. Sie sagte Sätze wie: Ich lese keine Bücher, die verfilmt wurden. Ich will mir doch den Film nicht versauen.
Beide Mädchen hatten Chucks an.
Und auf einmal wusste ich, dass es Yvette nicht war.
In dem Moment hörte ich jemanden meinen Namen aussprechen wie eine Anordnung vom König.
Charly!“
Ich schaute verdattert hoch. In Beas Gesicht. Halblicht. Halbschatten.
Was?“
Was du denkst.“
Was?“
Ich will wissen, was du denkst.“ Bea sah mich an.
Wieso?“
Bea stöhnte genervt und drehte sich zu Rike um: „Echt, du bist dir sicher, dass sie so klug ist, ja?“
Rike nickte. „Alles, was ich euch gesagt habe, hat sie mir vorher gesagt. Echt, ich bin ne Hohlbirne. Sie ist die Doppelkluge hier!“ Sie zeigte auf mich, als wäre das mein Todesurteil. Ich konnte es mir gut vorstellen: noch zwei weitere Regentage und man würde mit Schaum vor dem Mund abstimmen, wen man zuerst essen sollte. Alle würden rufen: „Da die Kluge! Sie weiß zu viel.“
Du hast doch die ganze Zeit was gedacht. So intensiv, dass du nichts gehört hast. Und ich wüsste gern...“
Bea drehte ihre Handflächen nach oben zu irgendeinem Gott und flehte: „WAS! Ich wüsste gerne, was du gedacht hast. Das wüsste ich gern.“
Gleich würde ich knallrot sein. Ich spürte, wenn sie sich die Hitze von ganz innen auf den Weg machte. Dann dauerte es noch ungefähr zwei Sekunde. Eins, zwei.
Los, lass uns teilhaben, an deinen klugen Gedanken.“
Also, ich kann vor allem so Rätsel und so.“ Die Röte raste bis unter den Scheitel. Feuerameisen.
Soll ich dir eine knalln?“, fragte Bea.
Yvette lachte.
Ich lachte auch. Als ob man auf einen Frosch tritt.
Nee, echt. Soll ich dir eine knalln?“
Wenn der ganze Kopf rot war, dann begann es nochmal richtig zu brennen. Dann kam der Schweiß.
Alle geben sich hier Mühe, ihr Bestes zu geben. Alle tun das was sie können. Ich weiß nicht, hier, Rike kocht. Sie sagt nicht: Ich kann aber nur Erbsensuppe. Sie kocht richtig gute Sachen. Und Freigunda bringt uns das ganze Hundezeug bei. Sie nimmt das ernst und hat jeden im Blick. Sagt hier und da mal was. Klar, das nervt auch, aber sie macht das doch gut.“ Jetzt zeigte Bea auf Anuschka „Hier sie denkt die ganze Zeit mit. Wo bekommen wir das Zeug her, was wir brauchen? Wie können wir hier überleben und so. Und Antonia gibt sowieso alles. Nicht einmal war ihr das zu blöd zu sagen, ihr seid gemein, hört auf zu streiten. Wenn sie weglaufen will, läuft sie weg. Wir lachen sie aus und sie macht weiter. Sogar Yvette ist sich selbst treu. Sie nervt weil sie nerven will. Sie kann nichts und macht auch nichts. Alle geben hier alles so gut sie können. Aber du, du stellst dich blöd und das nervt mich. Da werde ich richtig wütend. Leute wie du, nerven mich echt total. Da fragen wir rum, wer kann was und du zuckst die Schultern. Und dann lässt du dir die Kräuter zuteilen. Jetzt kennst du dich mit Kräutern aus...“

Mir war so rot, ich war verbrannt. Jeder musste das sehen. Keiner sagte: Lass sie doch in Ruhe. Das sagte keiner, weil Antonia ja schon wieder weggelaufen war. Sie hätte das gesagt.
Und? Was denkst du?“, fragte Bea, stieß mich mit dem Fuß an. Mit ihren Chucks.
Ich hob den Kopf. Zuckte mit den Schultern.
Wenn du was denkst und du sagst es uns nicht, dann ist das so, als ob uns Rike Essen vorenthält.“
Oder alleine isst“, Rike zuckte die Schultern.
Na, jetzt geht es ja los!“, schüttelte den Kopf. „Charly muss uns doch nicht ihre Gedanken sagen. Wir sagen doch alle nicht alle unsere Gedanken. Gerade du redest doch immer von Freiheit“, meinte Bea.
Die nickte.
Und gerade du sagst ja auch nie, was du denkst.“
Bea nickte nochmal. Und als gäbe es da nichts zu erklären oder zu entschuldigen, erklärte sie nicht und entschuldigte sich für nichts.
Ich hab über was anderes nachgedacht, als darüber, was mit Inken passiert ist“, sagte ich in diese Lücke hinein.
Dann solltest du schleunigst anfangen darüber nachzudenken, was mit Inken passiert ist. Die da draußen denken, wir hätten sie umgebracht. Ich hätte gern, dass sie das nicht denken.“
Bea sah mich an, als ob es jetzt drauf ankäme. Sie oder ich. Keine Gefangenen.
Antonia kam gerade wieder rein. „Seit ihr fertig mit streiten?“
Nee, aber bleib ruhig hier“, sagte Rike.