Freitag, 8. Juli 2016

Das Barther Jugend Ensemble hat die "Mädchenmeute" aufgeführt.

Das muss man sich mal vorstellen: Etwas, das ich mir nur vorgestellt habe, wird zu einer richtigen Vorstellung.

Nur mal eine kleine Anekdote vorneweg: Eines Tages zog die Kindergärtnerin meine Mutter beiseite und flüsterte ihr zu, dass die Tochter komisch sei, sie habe unsichtbare Dinge in der Hand und dann sollte die Erzieherin mal kucken. "Kuck mal!, hat sie gesagt", die Erzieherin mit weit aufgerissenen Augen (stelle ich mir so vor) "und dann hat sie mir die leeren Hände hingehalten. Und da war nichts drin."
Wie traurig, dass diese Erzieherin nur etwas in der Hand hatte, wenn sie was in der Hand hatte. Ich habe bis heute alles in der Hand, was ich in der Hand haben will. Dafür habe ich vieles nicht im Griff.

Foto: Klaus Litzinger
Das Barther Jugend Ensemble

Mädchenmeute ist 463 Seiten dick, hat 7 Hauptpersonen und 5 Nebenpersonen.
Piet Oltmanns und die Schauspieler und Schauspielerinnen des Barther Jugend Ensembles haben sich trotzdem getraut. Sie haben bei Rowohlt 10 Bücher bestellt, die auch bekommen. Das sah dann so aus:


Na macht mal, habe ich gedacht. Es war schwer sich das alles auszudenken - wer, wann, wo, warum auftaucht, verschwindet, irgendwas tut - aber ich beneide auch niemanden, der das alles kürzer erzählen muss.

In einem Artikel in der Ostseezeitung steht:
"Wie lässt sich ein 460-Seiten-Roman in ein nahezu zweistündiges Theaterstück umwandeln? „Das ist grausam, weil man ja auch immer der Autorin verpflichtet ist“, gesteht Piet Oltmanns mit einem Augenzwinkern ein."
Hier kann man den ganzen Artikel lesen.

Nach der Premiere bekam ich Fotos zugeschickt. (Die hat Karl Litzinger gemacht und mir zur Verfügung gestellt. Dankeschön dafür. Die schlechten Fotos sind von mir.)
Ich wusste sofort, wer wer von den Mädchen ist und das war mir alles sofort nah, es gehörte sofort zu mir, war nicht wie Kinderbekommen, sonder wie Enkelbekommen.
Dieser Tarnnetzwald, diese Hunde auf den Instrumenten. Diese schwarz gekleideten Jungen, die im Handlungshintergrund handeln, im Buch und auf der Bühne.

KL

Es war klar, dass ich da hin musste, aber erstmal ergab sich keine Gelegenheit: Ich reiste für mein Projekt "Welt und Kind" herum. Eigentlich wären wir auch im Juni unterwegs gewesen, aber ein seltsamer Backenzahn der Tochter machte uns einen Strich durch die Rechnung. (Falls sich jemand gefragt hat, warum es bei "Welt und Kind" so ruhig ist. Eine Reise von Zahnarzt zu Zahnarzt. Vielleicht schreib ich noch was drüber.) Wir waren jedenfalls im Lande und unsere einzige kleine Reise ging nach Barth an den Bodden zur letzten Vorstellung.
Kind und Mann geschnappt, Übernachtung in einer Jugendherberge mit Reiterhof gebucht.
Die Ostsee ist so schnell von Berlin erreicht, dass ich mir jedes mal vornehme, häufiger an die Ostsee zu fahren.

Warum macht man gottverdammtnochmal nicht häufiger die Dinge, die man gerne macht? 


Am 2. Juni zog perfektes Theaterwetter über die Ostsee, sagte die Theaterwetter-App, gut, aber etwas kühl, könnte regnen, aber nicht zu doll.
Nun war aber diese große Fußballsache angeleiert worden, ein Spiel nach dem andere und just an diesem Tage sollte Deutschland Italien schlagen (ich will ja nicht spoilern, aber sie werden am Endes des Textes gewonnen haben werden. Oder wie die vergangene abgeschlossene in der Zukunft liegende Vergangeheit in Texten auch immer gebildet wird).
Insgeheim hoffte ich, dass das angesagte Erscheinen der Autorin dafür sorgen würde, dass sie auch vor einem Gast spielen würden, falls alle Welt lieber dem Runden zusah.

Fast die Usedomer Bäder Bahn verpasst, die so schöne kleine Schnarchgeräusche beim Fahren verlauten lässt. So muss das: rennen, lachen und von einem alten sächsischen Ehepaar mit "Nu grode noch gut gegong" begrüßt werden. Sie haben zwei Pekinesen als Hund. Die habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen. Werden die wieder in? Sie haben seltsame Zungen, hecheln durch Röllchen.

Der Taxifahrer in Barth war stolz zu verkünden, dass alle 70 Jahre ein Kinderfest ist und dieses nun gerade heute sei.
Jippi, wenn man aus Berlin kommt, der Stadt der Straßenfeste. Straßenfeste mit Kind heißt bloß am Karussell stehn, am Karussell stehn, über ungesunde Ernährung reden und dann erklären, warum Eltern Kindern nicht alles kaufen, dann wieder am Karussell stehen.
Darum bin ich so gern in der Natur mit dem Kind: am Ast schaukeln kostet nüscht und ein Stock ersetzt jedes Spielzeug. Wenn es ein weiches Spielzeug sein soll, muss man sich vorstellen, dass es weich ist. Ansonsten hat man ja immer noch leere Hände.

Auf dem Reiterhof schnappt dem Kind das Glück über.

So ist das: man erkundet Kontinente, aber gegen eine Ziege, die sich den Bart flechten lässt ist alles nichts.

Es sind ein paar Ponys da, die sanft Gras aus leeren Händen schnuffelten. Sie bekamen alle Namen vom Kind. Lange, Dunkle Nacht, Brownie, Erste Wolke.


Die Barther Boddenbühne ist von außen weniger charmant als von innen. Auf der Homepage kann man mal virtuell reinsehen. Licht, Bühne, Service, Bierauswahl (und das Bier darf man mit reinnehmen) alles ist wirklich super. Wenn ihr mal in der Nähe seid oder dort Urlaub macht, dann schwingt doch mal euren sandigen Urlaubshintern auf und unterstützt diesen (jetzt wollte ich fast "nicen" schreiben) Kulturort.
Am 8.10. zum Beispiel wird Maschine da, der Sänger der Puhdys. Da kann man hin und sich freuen wie die Patina in und auf einem Menschen wächst, bzw. einer Maschine.




Trotz Kinderfest in Barth und Fußball kamen einige Menschen ins Theater.

Ich war ordentlich aufgeregt und schon vorher glücklich.
Für mich ist es kein Problem, wenn jemand was mit meinen Texten macht. Ich gebe sie gern ab und sehe, was andere damit spielen. Nur bei unfertigen Texten kann ich bockig werden. Sobald die Texte in meinem Sinne fertig sind, ist alles gut. Meine Arbeit ist getan und damit ist der Text ganz frei von mir und ich von ihm. Ich lasse mir also nur beim Kochen ungern reinwürzen (außer ich bitte darum, zum Beispiel wenn man bei Theaterstücken mit Dramaturgen zusammen arbeitet), wenn angerichtet ist, soll jeder nachwürzen oder essen wie er will.

Am meisten beschäftigte mich, wie das alles mit dem Kind laufen würde. Sie ist ja ein Zappelflupp mit sehr vielen Emotionen. Man könnte anstatt Lotto zu spielen, Menschen schätzen lassen, wie das Kind in verschiedenen Situationen reagieren wird. Zusatzinformationen sind dann: ist es müde, die Hose kneift, hat es Hunger und weiß es selbst nicht. Haha, dann stehen die Quoten 1 zu 100.


Irgendwie hatte ich vergessen, wie gruselig der Anfang von Mädchenmeute ist.

Geschrieben und gelesen ist es auch nicht so gruselig wie gespielt. Blut und dann schreien die Mädchen. Alle, die darauf getippt haben, dass eine fantasiebegabte (teilweise auch fantasiegebeutelte) Sechsjährige sich gruselt, bekommen volle Punktzahl.
"Mama", flüstert sie sehr laut.
"Pst!"
"Mama, wer hat das Gepäck versteckt?"
"Das erfährt man am Endes des Buches."
"Du sollst mir das jetzt sagen."
"Aber dann ist es doch nicht mehr spanend."
"Mama, ich halt das nicht aus."

Der Mann geht mit der Maus leise aus dem Zuschauerraum. In der Pause bittet meine Tochter mich, nächstes Mal ein weniger aufregendes Stück zu schreben, eventuell eins, wo ein Pony einfach nur auf einer Wiese steht. Ich denke drüber nach, verspreche ich ihr.

Jetzt endlich, endlich zum Stück.
Am Anfan dachte ich, dass sie doch unmöglich in dieser Ruhe und Sorgfalt weitererzählen können (dann wären sie doch erst am nächsten Tag fertig). Konnten sie aber (3 Stunden mit Pause) Es ist wirklich viel vom Buch im Stück. Ganze Monologe, die textsicher und natürlich gesprochen wurden.

Meine Fresse, haben diese jungen Leute da professionell abgeliefert.

Ich hab oft aus dem Buch vorgelesen, und einiges hätte ich mitsprechen können. Ein bisschen immer das Gefühl, alle wären nur in meinem Kopf und wenn ich aufwache, habe ich nur lere Hände und alles ausgedacht.

KL

Eine Schwierigkeit ist, dass die Erzählstimme des Buches zu einer schüchternen Protagonistin gehört. Da sie im Buch selbst erzählt, ist Charlotte Nowak sehr präsent mit ihren Gedanken und Gefühlen. Eine schüchterne Hauptfigur auf der Bühne ist eine Herausforderung. Die Schauspielerin ist so gut, dass ich danach überrascht bin, wie aufrecht und selbstbewusst Fiona Mählmann in Wahrheit ist. Sie haben diese Schwierigkeit sehr gut gelöst. Charly spricht, was sie sonst denkt und dann wird sie gefragt: "Hast du was gesagt?" Sie daraufhin: "Nein!" Geile Idee!

 KL

Auch die anderen Mädchen sind deutlich in echt anders. Das ist toll, wie sie sich danach in sich selbst verwandeln und ich sie noch einmal ohne Mädchenmeuterolle erleben kann. Michelle Brand, die eine coole Bea spielt, erkenne ich erst gar nicht ohne Perücke.

KL

Jette Clasen, die großartig Freigunda spielt, erzählt mir später, dass sie das volle Gegenteil der Figur ist. Sie desinfiziert Wunden also nicht mit Spucke und beißt keine Hunde in den Hals.

KL Charlotte, Feigunda und Anuschka mit den Hunden Kajtek und Dämon

Trotz Beinverletzung bei der letzten Aufführung dabei Juliane Böhmer als Yvette, bissig und arrogant mit viel Text und blauen Haaren. Super.

KL
"Falls du dich fragst, wie deine neue beste Freundin heißt. Die Yvette. Und die will nicht nur spielen."
"Fein, ich bin Bea. Ich höre dir auch gern zu, wenn du nichts sagst."

Mit "Pengpeng Banküberfall" T-Shirt Charlotte Litzinger, die eine Rike spielt, in der auch die Rolle der Antonia eingearbeite wurde. Eine Riktonia.

"Aus Moabit!"

KL

Absoluter stark: Anni Möller als Inken. Eine durchgeknallte Rolle, durchgeknallt gespielt.

 KL
"Mädels! Hergehört! Tut mir die Liebe und gehts ins Bedürfnishaus."

Sehr gut gefallen hat mir die Szene am Abgrund. Da setzen sich "Charly" und "Anuschka" (Marie-Céline Korzenek, absolut passend und toll in der Rolle) hinten auf die Balustrade bei der Technik und lassen die Beine baumeln. Der Milchfelsen aus dem Erzgebrge entsteht direkt im Zuschauerraum.

Ich mochte sehr, wie Freigunda die Leiter baut und endlich etwas von sich erzählt.

 KL

Wie sie die Regentagen spielen. Da haben sie klatschnasse Pullover an und wringen diese auf der Bühne aus. Das klatscht und schmatzt.

KL

Das Christenringen:
KL

Die Jungs bekommen auch den Platz, der ihnen zusteht. Sie sind ja von Anfang an dabei. Im Buch wird das nicht gesagt, aber auf der Bühne stehen sie in schwarz im Hintergrund. Cool. Klar, im Buch beschweren sich die Personen nie, wenn sie zu wenig oder zu spät erst dran kommen.

Zufällig sind bei dem Barther Jugend Ensemble sowieso drei Jungs.

Als Jurek Nico Schlicht, als Matheo Rico Giese, als Ole Georg Reckzeh.



Georg Reckzeh, Anni Möller und Rico Giese noch ganz kurz in anderen Rollen:

KL
"Wenn die keiner mehr will, dann kann man die doch abknalln. Köter gibts wie Sand im Meer."
"Am Meer."
"Watt soll man die denn durchfüttern und rumfahren? Einfach abknallt. Oder vergasen. Hinten an nen Auspuff halten."
(Das war fast geschrieben für den nordischen Dialekt, passte wie Faust aufs Auge.)

Dreimal verbeugen.

Es gab einige Male Szenenapplaus und die Stimmung war wirklich toll. Danach Begeisterungsstürme, trampeln und johlen. Da war meine Tochter auch wieder mit im Zuschauerraum. Krach machen kann sie. Sie ist froh, dass alles nur halb so gruselig ist am Ende. Ich bin froh, dass sie nicht die Winselmutter und das Skelett mit im Stück hatten, wie ein Bruder den anderen erschlug.
Drei Vorhänge. Danach Tränen, weil es für Fiona Mählmann die letzte Vorstellung war. Sie geht leider weg.
Wir haben alle Zeit um uns zu unterhalten, Foto zu machen.
Die Tochter knallwach und fröhlich, spielt mit Requisiten, traut sich nicht in den Tunnel unter der Bühne: Sie stapelt die Hunde und bekommt eine Katze geschenkt, die aus einem Hasen umgenäht wurde.


"Man, genauso habe ich mir Boogie vorgestellt. Genauso!" sagte ich.
Und Piet verrätmir, dass sie die Fotos der Hunde vom Blog benutzt haben. WEnn ich schon so ene Vorlage bereit stelle.

Ich darf die Cojons signieren, denn alle dürfen das Cajons zur Rolle behalten.


Ich bekomme von allen eine Unterschrift auf ein Poster (das werden alles mal Stars und dann habe ich ihre Unterschriften). Leider vergesse ich es zwei Tage später in der Usedomer Bäderbahn. VERDAMMT! Das Fundbüro hat es nicht. Falls irgendjemand ein Poster von Mädchenmeute findet mit vielen Unterschriften drauf, dann wäre ich sehr froh es wieder zu bekommen.

Danke alle. Danke Piet Oltmanns, danke Barther Bodden Bühne, danke Barther Jugendensemble.


Noch ein Bier und dann fahren wir durch helle Nacht, am Boddenrand zur Unterkunft. Die Dynamos sirren, die Ponys schlafen und während im Gemeinschaftsraum eine Jungsmeute zum Elfmeterschießen brüllt, schläft das Kind innerhalb von Sekunden ein.

Wir gehen Bodden kucken. 7 zu 5 für die Natur. 


Und wie schön der nächste Tag war, erzähle ich vielleicht auf Welt und Kind.




(Da ist kein Fisch. Das bildet ihr euch ein.)