Ich werde nach und nach noch mehr gestrichene Passagen hier veröffentlichen. Es ist doch ziemlich viel rausgeflogen beim Überarbeiten.
Eins, zwei, drei, eine Prügelei
Eins, zwei, drei, eine Prügelei
Ich hatte eine zeitlang, vor in der Handlung einen großen Sprung zu machen und direkt im Tunnel zu landen, wo die Mädchen sich schon eingerichtet hatten. Dann merkte ich, dass es schwer war, alles indirekt (Rückblicke, Dialoge, Reflektionen) klar zu machen. Wie sind sie da hingekommen usw. Also habe ich es einfach der Reihe nach erzählt.
Keine
fünf Wochen und einen Sommersturm später waren alle aus den
Eiscafés entflogenen Sonnenschirme wieder aus den Stadtparkbäumen
gepflückt worden, und wir waren landesweit immer noch die
Hauptnachricht.
Obwohl
keine Neuigkeiten zu berichten waren, wurde immerzu berichtet, dass
es keine Neuigkeiten gab. Keine Spur, keine Augenzeugen.
Man
schrieb: „Sind die 9 Heiligen-Mädchen von Außerirdischen entführt
worden?“
Mir
kam es fast so vor.
Wir
selbst nannten uns Mädchenmeute, nicht Heiligen-mMädchen. Davon
entfernten wir uns jeden Tag mehr, seit wir hier in diesem alten
Eisenbahntunnel unser Lager aufgeschlagen hatten.
An
jenem Morgen wachte ich vor den Anderen auf. Im Tunnel war es nicht
hell und nicht dunkel. Im Tunnel war es immer etwas kälter als
draußen, wo die Siebenuhr-Vögel wetteiferten. Ich hörte noch einmal
genau hin. Es waren eher die Halbsiebenuhr-Vögel. Hinten im Tunnel
klang alles, als ob ich in einem alten Radio herumlief, das gerade
ein Försterhörspiel sendete. Ich zog mir meine Fliesjacke über,
die Gummistiefel an und ging mitten ins Försterhörspiel hinein. Im
Ausgang des Tunnels war ich dann auf einmal in einer
Waschmaschinentrommel, die im Schongang Wald wusch. Die Töne rollten
die Wände hoch und fielen von oben runter.
Vor
dem Tunnel kam der Wald ohne Umweg in mein Ohr. Der geilste Krach,
den ich kenne. Der Nebel hing nur noch fußknöchelhoch. Bald würde
er ganz in die Erde kriechen. Kugelrunde Tropfenlupen hockten auf den
Pflanzen und sonnten sich bis zum bitteren Ende. Die Sonne schien
schräg auf die kleine Lichtung vor dem Tunnel. Es war der
wunderbarste Ort, um eines von den 8 meistgesuchten Mädchen des
Landes zu sein.
Ich
deutete Frühsport an. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass
etwas knackte in meinem Rücken.
Ich
summte die Melodie einer Seifenoper, die ich ein wenig vermisste, als
ich plötzlich Bea auf dem Versammlungsstein sitzen sah. Sie hatte so
still gesessen wie eine über Nacht gewachsene Vergrößerung des
Steines.
Sofort
hörte ich auf zu summen.
Bea
starrte durch einen Baum hindurch.
Große
Lust mit ihr allein zu sein, hatte ich nicht. Im Schleichen war ich so
gut wie drei Kühe zusammen.
Selbst
wenn Bea weiter auf den Baum starrte, hieß das nicht, dass sie mich
nicht die ganze Zeit beobachtete.
Innerlich hatte ich ein originelles „Na?“
zurechtgelegt, da sah ich Rissy von der anderen Seite der alten
Gleisbettung kommen. Wo war die denn gewesen?
Sie
ondulierte sich seit drei Wochen nicht mehr ihre Wimpern. Ihr
Schminkzeug war verschwunden, oder verschwunden worden von irgendwem.
So abgebretzelt sah sie aus wie ein normaler Mensch. Benehmen tat sie
sich trotzdem wie eine Diva.
In
zwei Meter Abstand baute sie sich vor Bea auf. „Geht dein Hund
wieder alleine spazieren?“
„Guten
Morgen“, sagte Bea.
Rissy pfiff einmal kurz, und ihr
Kampfhundverschnitt kam angeflogen wie aus einer Kanone im Gebüsch
abgefeuert. Dann setzte sich die schwarzglänzende Kraftkugel neben
Frauchen hin und zeigte ihren ferkelrosa Bauch.
„Ich
will ja nicht meckern“, stichelte Rissy weiter, „aber so sähe es
aus, wenn dein Hund auf dich hören würde.“ Ihr Grinsen dabei so
groß, es würde in keinen Sack passen.
Die
Steinbea blieb sitzen. Ein bekiffter Indianerhäuptling könnte nicht
ruhiger sein.
„Also,
klar, wir haben uns geeinigt, dass die Chefin ist, die den
Alpha-Rüden hat, aber wenn er nicht auf dich
hört, dann müssen wir auch nicht auf dich hören.“
Der
Wald und Bea schwiegen. Ich sowieso. Sich jetzt zu räuspern, wäre
irgendwie blöd gewesen.
„Wir
sollen nicht rauchen?“, fragte Rissy und zauberte eine Zigarette aus
ihrem Kaninchengürtel, und ein Feuerzeug klickte.
„Rissy,
lass es!“ Bea war immer noch ganz ruhig.
„Willste
auch eine? Ich sags auch keinem.“
„Ich
habe das Rauchen nicht verboten, weil ich dir deine frisch geteerte
Straße in den Tod nicht gönne, Rissy. Ich finds ungünstig, den
Wald direkt vor unserem Versteck in eine Signalfackel zu verwandeln,
wenn einen das halbe Land sucht.“
Rissy
zuckte mit den Schultern. „Morgens ist hier alles voller Tau. Das
kann doch gar nicht brennen. Außerdem höre ich nur noch auf dich,
solange dein Köter in der Nähe ist.“
Bea
saß unverändert wie eine Henne, die ein riesen Steinei ausbrütet.
Ich
selbst kam mir auch schon ganz versteinert vor. Mein einer
Gummistiefel machte ein Gummistiefelgeräusch.
„Wenn
dein untreuer Köter endlich in einer Fuchsfalle verreckt ist, bin
ich hier sowieso die Chefin, du peinliche ...“
Bea
schnellte von dem Stein hoch und warf sich mit einem gewaltigen
Sprung wie ein Raubtier auf ihr Gegenüber. Alles ging so schnell,
dass ich mörderisch zusammenzuckte. Beas Hände schienen sich schon
im Flug um Rissys Hals gelegt zu haben. Eine kreischte. Eine
schnaufte. Dumpf schlugen beide Körper auf dem Boden auf. Sie traten
und schlugen nacheinander. Dann war es auf einmal still. Beide lagen
still. Bea oben.
Bis
unter den Scheitel hämmerte mein Herz. Ich konnte mich nicht
bewegen. Hatten sie sich umgebracht? Ich konnte doch nicht schon
wieder daneben gestanden haben, während ein Unglück geschehen war.
„Beweg dich!“, schrie ich mich innerlich an, aber mein Herz pochte
lauter als meine Gedanken.
Dann sah ich erst, was passiert war. Bea hatte
Rissy wie einen Hund auf den Rücken gelegt und mit einer Hand ihre
Kehle umfasst. Sie lehnte sich mit der vollen Kraft ihres Oberkörpers
auf Rissys Brustkorb und starrte sie an. Die Unterlegene schien kaum
Luft zu bekommen.
Das
war eine Alpharolle. Unsere Hundeauskennerin Sabella hatte uns
erklärt, dass auf diese Weise ein Hund einen anderen Hund unterwarf.
Wir Menschen sollten das nur in absoluten Ausnahmesituationen bei
einem Hund machen, warnte uns Sabella. Es könnte zwar ein für alle
mal klären, wer der Chef ist. Es könnte aber auch für immer das
Vertrauensverhältnis zerstören. Wenn es ein Alphatier ist, konnte
die Alpharolle sogar gefährlich werden. Der Hund würde danach
sofort angreifen.
Rissy
war auf jeden Fall ein Alphatier.
Ich
konnte mich wieder bewegen. Ich rief: „Alarm! Die kloppen sich.
Alarm!“
Bea
drehte nicht mal den Kopf zu mir. Sie starrte weiter Rissy an, die
unter ihr rot anlief.
Im
Tunnel hob ein Gepolter an. Dann kamen alle wie ein Knäuel
angesaust. Erst die Hunde. Bellend. Dann die Mädchen. Sie riefen:
„Alle für alle, alle für alle!“, Messer und Knüppel in der
Hand. Wie wir es geübt hatten. Eine verstrubbelte Armee, barfuß und kopflos, denn ihre Chefin würgte die zweite Chefin. Die Hunde hatten
die Ohren angelegt. Sie hüpften bellend herum.
Imiko
schrie, dass wir alle still sein sollten, dabei war sie die Lauteste.
So hatte ich sie in all den Wochen nicht kreischen hören. Im Tumult
stürzte sich Sabella auf Imiko und hielt ihr den Mund zu. Ich
glaube, Sabella hasste Lärm. Sie hatte einen Hundeverstand und
vielleicht auch ein Hundegehör.
Imiko
quiekte hysterisch.
Drei Mädchen waren inzwischen zu Bea und Rissy
gerannt. Ich lief mit. Ich hatte lang genug zugesehen. Noch bevor wir
Bea von ihrem Opfer zerren konnten, stand diese von alleine auf und
stellte sich mit erhobenen Händen aufrecht hin. Sie stand da, als
wäre sie auf den Kampfplatz gekommen, um zu richten. Ganz anders
Rissy: zerzaust und voller Dreck. Sie sprang sofort auf und spuckte
vor Bea auf den Boden. Erst drehte Bea in der friedlichen Art der
Kühe nur den Kopf weg, schloß die Augen und schnaufte. Dann
schnellte sie herum und rammte Rissy die Hörner in den Bauch. Wir
zerrten zu viert an den Kampfhennen herum, deren Körper sich wie ein
Klettverschluss verfilzt hatten. Wieder bellten die Hunde. Sie kamen
selbst ins Zanken. Aus Spaß und aus Ernst.
Dieses Hand- und Hundgemenge hätte sicherlich
noch eine Weile gedauert, wenn Bea nicht im Schwitzkasten unter
Rissys Arm zwischen Tonias Ellenbogen und meinen Händen hindurch
etwas gesehen hätte. Die Hunde hatten es schon vor ihr gesehen. Sie
hatten aufgehört zu balgen und waren gleich zu ihm hingelaufen. Sie
umringten ihn und stupsten und wedelten um ihn herum.
Bea rammte ihrer Gegnerin kurzerhand den
Ellenbogen in den Magen. Die hätte super einen k.o.-gehenden Boxer
synchronisieren können. Danach klappte sie in sich zusammen, wo
gerade noch Bea gestanden hatte, die mit vier, fünf gerannten
Schritten bei Cherokee war.
Der große, stolze Hund hatte eben noch aufrecht
die Begrüßungen der Hunde entgegen genommen, doch als er Bea sah,
senkt er den Kopf und schob seine Nase durch den Waldboden auf sie
zu. Vorne hatte er ein schlechtes Gewissen, aber hinten freute er
sich, sein Frauchen zu sehen.
Sie hockte sich vor ihn. „Alter, wo warst du
denn?“ Sie tastete seinen Kopf ab, seine Ohren, seinen Körper. Er
sagte ihr zwar nicht, wo er war, hatte ihr von dort aber viele
Hundeküsse mitgebracht.
„Mann, wo treibst du dich immer rum?“ Bea
schaute sich alle Pfoten ihres Hundes an.
„Was soll er jetzt sagen?“ Rissy stand schon
wieder. „Er ist doch kein sprechender Wunderhund. Ich war bei den
drei Linden, wauwauwau, da habe ich einen Schatz für dich
versteckt.“ Sie lachte. Niemand lachte mit.
„Rissy, nächstes Mal schmink ich dir die Lippen
mit Blut“, knurrte Bea.
Bei
einer erfolgreichen Alpharolle musste der Unterworfene noch eine
Weile auf dem Rücken liegen bleiben, ohne festgehalten zu werden.
Das war wohl nichts.