Kapitel Null
So fing es in der ersten Fassung an.
Die Mädchen hatten so funky Spitznamen, was sich schnell als unnatürlich herausstellte.
Und eine Gerichtsverhandlung? Davon ist nichts übrig geblieben.
Taxi
mit langem A
Im
Badezimmerspiegel mir gegenüber steht eine grinsende Sekretärin mit
Kindergesicht. Ich hab mich kaum wiedererkannt. Schock.
Die
anderen Mädchen werden toben, wenn sie mich so sehen. Bestimmt sehen
sie alle auch total Banane aus. Bea richtig schick angezogen, kann ich
mir gar nicht vorstellen.
Meine
Mutter hat den grauen Hosenanzug für mich gekauft, damit ich mich
Ende dieses Schuljahres bewerben kann. Jetzt muss ich eine Klasse
wiederholen und habe noch mal eine ganze Ewigkeit Zeit, bis ich
irgendetwas werden muss.
Eigentlich
muss ich auch gar nichts werden. Ich bin in den letzten Monaten genug
geworden. Fast eine Berühmtheit.
Dieser Hosenanzug ist wahrscheinlich das erste
Kleidungsstück, in das ich nicht mehr reinwachsen muss. Der Arzt hat
mir 1,75 Zentimeter vorausgesagt und die habe ich jetzt.
„Charly!“,
ruft meine Mutter unten. Was drängelt sie denn so?
„Das
Taxi kommt gleich!“
Ach
so, wir fahren nicht mit der Möhre. „Reinigungsfirma Nowak und
Nowak“ steht da drauf. Hinten ist alles voller Besen und Eimer.
Nee, so können wir da nicht auftauchen. Trotzdem, Respekt, dass
„Erziehungsfirma Nowak und Nowak“ ein Taxi nach Berlin
finanziert. Für den Nachwuchspartner. Vielleicht sollte ich das mit
dem Bewerben doch ernst nehmen, sonst steht irgendwann auf der Möhre
„Nowak, Nowak und Nowak“, und ich wische jeden Tag den Schweiß
von Wochenendtouristen aus der Wellnessoase im „Vitalhotel“.
Meine
Mutter ruft schon wieder nach mir. Charlotte mit langem O. Das Taxi
käme doch gleich. Taxi mit langem A.
„Brauchst
du Hilfe?“
„Nein!“,
rufe ich, bleibe aber trotzdem oben an der Treppe stehen.
Ich
warte, bis sie nach Harly rufen, dann polter ich runter. Kann ja
nicht so schwer sein, dass sie sich meinen neuen Namen merken. Er ist
ja fast wie der, den sie mir gegeben haben. Nur ohne C. Einfach
Harly. Wenn sie will, dass ich sie Ama nenne, würd ich es sofort
machen. Kein Ding.
Vor
dem Flurspiegel stehen meine Eltern. Mamas Hosenanzug ist mit meinem
verwandt. Nur an der Hüfte ist er viel breiter. Daneben steht mein
langer Papa. Den Schlips wie eine Hundeleine um. Aber das passt zu
seinem Knautschgesicht.
„Ich
wollte schon immer eine Harley haben“, sagt er, „komm, meine
Harly“, und er nimmt meine Hand. Das klingt so, als ob er mit einem
ganz kleinen Mädchen redet. Ja, du bist meine Prinzipessin. Wir
werden die Weltmeere bereisen. Mit dem Küchentisch. Natürlich.
Meiner
Mutter bezupft mich derweil. „Der passt nicht, wenn du krumm
stehst. Wir müssen sowieso einen neuen kaufen, wenn die Schiene ab
ist.“
„Müssen
wir nicht“, sage ich.
„Du
hast Recht. Wir haben noch ein Jahr Zeit.“ Ihre Augen seufzen, ihr
Mund lächelt tapfer.
Hinterm
Milchglas der Eingangstür kommt ein Mann den Weg entlang. Meine
Mutter öffnet die Tür noch vor dem Klingeln. „Ja, wir kommen
gleich“, sagt sie, als hätte der Taxifahrer danach gefragt.
„Gepäck?“,
fragt der stattdessen. Mutter schüttelt den Kopf. Der Taxifahrer
trottet zurück zum Wagen. Wir hinterher.
Meine
Eltern und ich passen kaum noch nebeneinander auf den Weg, aber sie
wollen mich unbedingt beide beim Laufen stützen. Die Krücken lassen
wir zu Hause.
„Zum
Amtsgericht Tiergarten. Wissen Sie, wo das ist?“ Mein Vater sagt es
leise, und erst, als wir im Auto sitzen. Meine Mutter schaut ihn
dankbar an.
„Selbstverständlich
weiß ich das“, sagt der Taxifahrer. „Heute ist der Prozess. Ich
weiß, ich weiß.“ Seine Augen lächeln mich aus dem Rückspiegel
an. „Du bist Harly, oder? Am Bein erkannt. Ich weiß, ich weiß.“
Bald
wird es Actionfiguren von uns geben. Ich bin die mit der Schiene.
„Wieso
ist denn der Gips immer noch dran?“
Papa
öffnet schon den Mund, aber ich bin schneller: „Ich habe ein neues
Kreuzband. Das war jetzt die letzte Operation. Is aber nur eine
Schiene.“
„Ah,
das hatte mein Schwager auch mal. Kenn ich“, sagt er und fährt die
Bahnhofsstraße entlang. Sie ist so leer, als wäre sie für mich,
Harly, Gips-Woman, gesperrt worden.
Ich
schaue auf meine Schiene. Bea wollte unbedingt drauf unterschreiben.
Sie ist rumgerannt wegen eines Eddings. Rissy war auch da und Tonia
und Nessa.
Ich
freue mich wie bekloppt, alle Mädchen wiederzusehen, auch wenn es
netter gewesen wäre, sie nicht gerade im Gerichtssaal wieder zu
sehen.