Freitag, 27. November 2015

Lesungen in Schulen

Hund weg!
Der ist ausgerissen.




Ich habe diesen Monat in vier verschiedenen Schulen in Brandenburg gelesen, betreut und bezahlt vom Friedrich-Bödecker-Kreis e.V. Brandenburg. Ich habe den Kontakt zu diesem Verein gesucht, weil ich sonst kaum Gelegenheit habe, die "Mädchenmeute" vor jugendlichen Zuhörer vorzustellen. Die gehen ja nicht in Lesungen: zu spät, zu öde, sind keine Geschmacksverstärker dran und man kann nichts anklicken.
Also muss ich zu ihnen gehen.
Im Sommer hatte ich schon einmal eine Lesungen vor vier Klassen tief, tief im Westen an einer Gesamtschule. Dort waren viele Schüler die, ich sag mal, mehrsprachig aufwachsen. Das war anders als in Brandenburg.

Ich wollte früher nie vor Jugendlichen lesen (Alptraum!), habe ja auch nicht für Jugendliche geschrieben. Ich hatte immer Angst vor denen, ihrer Gruppendynamik, ihrem Spieltrieb, dass ich unsicher werde, erröte, mich unwohl fühle. Nun bin ich der lebende Beweis, dass man Menschen treffen kann, vor denen man Angst hat, dass man Situationen herbeiführen kann, von denen man dachte, dass sie furchtbar sind, um hinterher zu denken:
a. siehste, schlimmschlimm.
b. kuck an, war ja gar nicht so schlimm.

Die Lesungen:
- vor vier Klassen (sechste und siebente gemischt) in der Bibliothek tief, tief im Westen
- vor einer fünften Klasse in einer Bibliothek
- vor einer siebenten, ebenfalls in einer Bibliothek
- vor einer neunten in einem Klassenraum in ihrer Schule
- vor drei neunten Klassen im Theaterraum

Ratet mal, welche Lesung am schwierigsten war!



Bei drei Lesungen habe ich Werbepostkarten von "Mädchenmeute" verteilt, auf deren Rückseiten die Schüler Fragen beantworten sollten, die ich zwischen den Leseabschnitten gestellt habe.
Das hat dafür gesorgt, dass sie tatsächlich sehr aufmerksam waren. Vor allem die Jungen, denen schnell klar war, dass ein Buch, dass "Mädchenmeute" heißt und in dem es wirklich um Mädchen geht, also nur für Mädchen ist. Aber Wettbewerb ist natürlich Wettbewerb, also haben sich die Jungs Mühe gegeben beim Beantworten der Fragen. Obwohl sie geahnt haben, dass es "nur" das Buch gibt.
"Bestimmt kann man das Buch gewinnen. Stimmts? Kann man das Buch gewinnen?" Ich habe einmal geantwortet, dass sie einen Hund gewinnen können. Daraufhin wurde ich informiert, wer schon einen Hund hat, wer keinen will, welche Farbe der Hund haben soll.





Meine erste Frage nach dem ersten Kapitel war: "Wie heißt die Katze von der Erzählerin?"
Hier meine Lieblingsantworten: Muschi, Miese, Naseweiß, Lieseweiß (Man kann sehen, dass das N von Nieseweiß überschrieben wurde. Es war also erst richtig. Eine ganze Reihe Mädchen hat diese Antwort und zufällig saßen die nebeneinander und hatten die gleichen Schuhe an, die gleichen Hosen, die gleichen Blusen UND den gleichen Schlauchschal), Pfiffi, Aleise (drei Jungs, die nebeneinander saßen, aber gar nicht die selben Klamotten anhatten, eher sahen sie aus, als ob Mama die Sachen noch rauslegt), Schniffel, Mittelputz, Mimi, Mis.

Damit sie nicht nur tuschelten und sich die richtige Antwort weitergaben, ließ ich sie auch was raten bzw. schätzen z.B. fragte ich sie, warum nur Mimiko nach Hause fahren konnte. Dieses Mädchen hat als einzige ein Handy und kann also als einzige Hilfe rufen, wäre die richtige Antwort. Mimiko kotzt aber auch im zweiten Kapitel, also schrieben die Schüler: "Sie fährt nach Hause, weil sie gekotzt hat". Sie schrieben aber auch: "sie musste kacken" oder "sie ist vom Teufel besessen". Meine Lieblingsantwort ist: "Weil es später 7 Mädchen sind". Das ist wirklich großartig. Die Figur in meinem Buch ist also in das Camp gefahren und während der ersten Nacht im Camp hat sie den Klappentext von dem Roman gelesen, in dem sie sich befindet und festgestellt, dass es ja nur sieben Mädchen sind, folglich jemand von ihnen zu viel ist. Vielleicht haben die Mädchen noch darüber beratschlagt, eine Szene, von der ich selbst nichts weiß, weil die Hauptfiguren es vor der Schriftstellerin geheim halten, wenn sie sich absprechen. "Ja, Mimiko, fahr du nach Hause", haben sie beschlossen. "Charlotte kann ja nicht nach Hause fahren, denn sie ist die Erzählerin", haben sie gesagt. "Das versteht sich von selbst." Wenn man diese Ebene mitbedenkt, sind alle Fragen zu Büchern plötzlich ganz leicht zu beantworten. Wieso kann Bea Auto fahren? Weil die Mädchen ja sonst nicht mit dem Auto wegfahren könnten. Warum haben die Mädchen auf einmal Hunde? Weil ein Hund auf dem Buchcover ist. Zack, so einfach ist das.



Eine Schülerin hatte alle Fragen aufgeschrieben, das zumindest richtig. Nur bei der Frage: "Wie heißt die Kleine?" hatte sie sich verhört und "Wie heißt die Kleidung?" geschrieben. Klar, dass sie die Frage nicht beantworten konnte.


Ich stellte den Schülern auch Fragen, deren Antwort sie nicht aufschreiben sollten. Nur um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Was glaubt Ihr, wie es weitergeht?
"Die sterben alle."
"Die entführen ein Auto mit Hunden und fahren ins Erzgebirge."
Ich daraufhin: "Du hast den Klappentext gelesen."
Er: "Ja, aber ist richtig, oder?"
Ich nickte.
Er freute sich.

Wenn ihr in so einem Camp wärt und die einzige Erwachsene Person wäre weg, was würdet ihr machen?
Die meisten wollten irgendwo anrufen und nach Hause.
Dann ließ ich abstimmen, wer im Camp bleiben will.
Je braver die Klasse, umso mehr wollten nach Hause fahren.
Je lauter und frecher die Klasse, umso mehr wollten im Camp bleiben.

Wenn ich sie dann fragte, was sie mit den zwei Wochen Freiheit anfangen wollten, wussten sie aber auch nicht so richtig.
"Ein Auto entführen mit Hunden drin und ins Erzgebirge fahren."
"Das hast du doch im Klappentext gelesen."
"Nee, hat Frau Windisch uns gesagt."
Ich beharrte auf meiner Frage. Was macht ihr mit der Zeit, die euch gehört?
Nach Hause fahren. Na klar.
Vielleicht zu nem Freund nach Hause fahren.
Einer sagte: "Wie ein Gestörter im Wald rumrennen und Essen suchen."
Eine sagte: "Sport. Ich mache Sport."
Nein, das war keine Frage für sie. Freiheit. Mit Freiheit verdient man kein Geld. Und ihnen ist klar, dass sie was werden müssen, denn alle sagen das. Sie wollen Sicherheit, denn alle sagen das. Eltern haben Angst, dass aus ihren Kindern nichts wird. Kinder wollen also lieber was werden. Dieses "Was-machen" muss natürlich ein Beruf sein. Was soll man denn sonst machen?
Die Frage "Was willst DU machen?" stellt sich nicht so sehr wie "Was kannst du machen, um erfolgreich und sicher zu werden?"
Das ist in den Klassen in Brandenburg zumindest der Fall. 

Die superfrechen Schüler tief, tief im Westen, die, sagen wir mal, polykulturellen Kinder rufen: Rumhängen, ans Meer fahren, arbeiten, weil wir ja Geld brauchen, ne Bank ausrauben.
Die haben Ideen, für ihre Freizeit und ihre Freiheit.
Vielleicht hat man ihnen nicht gesagt, dass sie ihren Platz in der Gesellschaft finden sollen, weil sie sonst wertlos sind. Vielleicht haben sie nicht das Gefühl, dass ihre Zukunft und ihr ganzes Glück von der Schule, dem Studium, dem Geld und der Arbeit abhängt. Vielleicht lernen sie nicht ständig? Hängen nicht nur zu Hause rum? Vielleicht ist es ihnen egal, ob das Zeugnis voller Vieren und Fünfen ist. Vielleicht wird aus ihnen auch ohne Schulabschluss was? Vielleicht erfinden sie sich selbst eine Karriere?



Wenn ich genug gelesen hatte und das Gewinnspiel beendet war, ließ ich mir von den Schüler noch Fragen stellen. Ich denke, sie fänden einen Rennfahrer, eine Stewardess, eine Schauspielerin, eine Polizistin spannender. Aber sie sind brav und stellen eben ein paar Fragen.
Warum haben sie das Buch geschrieben?
Wie lange haben sie für das Buch gebraucht?
Haben sie was geschrieben, das man kennt?
Wie viele Bücher haben sie geschrieben?
Wie viele Seiten hat das Buch?
Wie viele Seiten haben die anderen Bücher?
Wieviel verdienen Sie?
Haben sie einen Mann?
Mögen sie Füchse?




Fakt ist: Die Lehrerinnen waren unzufrieden mit den Schülern. Sie sagten gleich vorher: "Das wird schwer" oder "Wir bringen die Rabauken!" oder "Wer stört, muss raus gehen." oder "Die lesen ja nicht" und "die sind so brav". Sie verdrehen die Augen, wenn die Schüler was sagen. Sie entschuldigen sich hinterher bei mir. Dafür, dass sie still sind oder dass sie laut sind, dass sie nicht mitmachen oder dass sie zu viel mitmachen. Ich bekomme das Gefühl, dass es fast egal ist, was die Schüler tun, die Lehrerinnen sind unzufrieden.
Dass ich immer wieder sage, dass es für mich gut so war, dass ich es mag, wenn sie lebhaft sind und ich sie erleben kann, anstatt dass sie brav dahocken, das bringt sie nicht von ihrer Meinung ab, dass die Schüler sich lieber benehmen sollen, anstatt sie selbst zu sein.

Für mich ist es natürlich spannend, "die Rabauken" zu erleben. Ich habe sehr viel Spaß mit den vier Klassen tief, tief im Westen mit den vielen, ich sag mal, Kindern mit Großeltern aus anderen Ländern. Gut, ich bin danach verschwitzt. Gut, ich muss sie mal anpöbeln, aber ich darf das: Ich bin keine Lehrerin. Wenn sie frech sind und ich frecher, machen die anderen "Uh"-Geräusche, weil ich einen Punkt gemacht habe. Es ist ein Spiel, das ich spielen kann. Es ist kein Kampf. Wir boxen nicht, wir tanzen. Sie können mich nicht fertig machen, denn ich muss ihnen nicht jeden Tag gegenüber stehen. Ich muss nicht mal ein Vorbild sein. Ich fluche und sagen ihnen, dass Schule gar nicht so wichtig ist, dass Geld nicht alles ist. Einer fragte: "Wenn sie für das Buch drei Jahre gebraucht haben, haben sie bestimmt nur einen Hauptschulabschluss." Darüber musste ich sehr, sehr lange lachen (eigentlich lache ich heute noch darüber.). Er lachte auch.
Es war für mich in Ordnung, dass ich ihnen begegnete, wie sie sind. Denn ich muss sie nicht erziehen, in den Griff kriegen. Ich muss ihnen nichts vermitteln, sie auf nichts vorbereiten. Wir sind nur beieinander.



Am schwersten war es in der sehr braven Klasse. Sie hörten zu, waren still, stellten drei Fragen und dann war es vorbei.
Die Lehrerin erklärte mir: es sind eben sehr zufriedene Kinder. Ihren Eltern geht es gut und auch die Kinder wüssten schon, dass aus ihnen Elite wird. In diesem Ort zeugen Zahnärzte Zahnärzte. Die Lehrerin und die Biblothekarin und ich waren uns einig, dass das der Untergang ist: Jugend, die nur will, was die Erwachsenen von ihnen wollen. Wir zerrissen uns das Maul. Vor der Bibliothek standen still die Schüler und warteten, bis ihre Lehrerin rauskam. Kein Schubsen, kein Werfen von Wörtern und zusammengeknüllten Schokoriegelverpackungen. Kein Hänseln, kein Necken, kein nichts.



Hier der Versuch, meine Erfahrungen zusammenzufassen:
Je mehr Schüler, um so unruhiger.
Je unruhiger, um so lustigere Fragen und Antworten, um so bemalter die Postkarten.
Je besser gestellt die Orte, Dörfer, Eltern, um so ruhiger die Kinder.
Je ruhiger die Kinder, um so besser haben sie die Antworten beantwortet. Sie haben nicht die Hunde ausgemalt.
Je ruhiger die Kinder, um so weniger Gespräche, um so weniger zu lachen, um so weniger Fragen haben sie an mich, um so weniger Kontakt habe ich zu ihnen.

Alle riechen, als ob sie wachsen. Ja, das tun sie. Ihre Drüsen drüsen. Die Bibliothekarinnen rissen die Fenster auf, kaum waren die Kinder/Jugendlichen weg.

Meine Lieblingsantwort am Ende.
Frage:
Wie sehen die Mädchen aus, als sie durch das alte Ferienlager rennen:
"wie eine Horde Vögel".